Aus der Unterwelt

Der Einjährige *) Millner war zum ersten Male mit dem Kommando von 40 Mann nach Schloß Waldeck gekommen. Er hatte gerade nicht sehr gern den Aufenthalt in der Residenz (Schloß Arolsen) mit dem in dem alten „Steinkasten“ (Burg Waldeck) vertauscht. Das Romantische der alten Burg reizte ihn gar nicht,
wie er schon unterwegs dem Kommandoführer widerholt auseinandergesetzt. Aber was half das Räsonieren? Der Bien **) muß!
Der Einjährige war bei den Kameraden nicht beliebt. „Ein Hochmutspinkel ist er!“ sagte der Frieder aus dem Edertale, der auch mit dem Kommando war. „Ein ausgemachter Hochmutspinkel, das sag ich!“

Der Frieder ging, im Gegensatz zum Einjährigen, gar gern mit zum alten Schlosse. Er kannte es seit seiner Jugendzeit und war während seiner Dienstzeit mehr als einmal hier oben auf Kommando gewesen. Und er ging immer wieder gern mit, drängte sich dazu, denn er wußte wohl Gelegenheit zu finden, im Laufe des Monats mehr als einmal nächtlicherweise den alten Mauern den Rücken zu kehren und drunten im Heimatdorfe einen Tanz oder eine Spinnstube mitzumachen. Doch ich will nichts weiter verraten, wenn auch unser Frieder schon längst auf Kommando bei der großen Armee ist.
Frieders Ärger auf den Einjährigen hatte einen besonderen Grund. Er wäre seinerzeit gern bei ihm Bursche geworden, der Extra-Einnahme wegen. Aber Millner hatte den Frieder einen Tölpel genannt. Aus seiner Anstellung war nichts geworden, aber der Ärger war geblieben. Rache ist süß. Vielleicht, daß sich hier oben, wo Frieder alle Winkel kannte, einmal Gelegenheit bot, dem „Hochmutspinsel“ eins auszuwischen.
Und die Gelegenheit kam.
Wer das alte Schloß kennt, weiß, daß sich im Erdgeschoß des Hauptflügels, nahe dem Tore, die Wachstube befand und daß sich unter diesem Erdgeschoß ein weiter Kellerraum hinzieht, so groß, daß man drinnen ein Volksfest feiern könnte. Heute (um das Jahr 1860) lagern dort die geistreichen, teueren Vorräte des Schloßwirts. Damals befanden sich hier unten die Marmorsägereien, in denen eine Reihe Zuchthäusler beschäftigt war. Es war ein mühselig Geschäft, den harten Stein zu sägen. Zwei Männer bedienten die Handsäge in stetem Hin und Her. Ein dritter stand dabei und kühlte den heißgelaufenen Stahl mit Wasser. Und das Wasser? Ein rarer Artikel hier oben. Da war in dem nahe dem Schloßeingange gelegenen Teile dieses Stückes Unterwelt eine weite Grube ausgehoben. Hier sammelten sich die Abwässer des Schloßhofes: Regenwasser, Jauche und andere angenehme Flüssigkeiten und bildeten einen Kump. Durch einen Schacht, den nahe dem Schloßtor ein eiserner Rost deckt, floß das Wasser in die Tiefe und gab dem Handlanger den Stoff zum Netzen der Säge.
Ein guter Kletterer konnte leicht aus der Unterwelt an den Eisenrost gelangen und einen Blick hinaus tun in die enge Welt des Schloßhofes – bei trockenem Wetter! Sonst –

Heute Nacht stand der Einjährige Posten im Tonnengewölbe des Schloßtores. Bis 12 Uhr mußte er hier gehen und stehen. Je nachdem. Und dann, wenn es heute Nacht 12 Uhr schlug, ging ein neues Jahr an. Neujahr! Und das erleben in dem alten Steinkasten! Langweilig, zum Sauerwerden langweilig. Noch Minuten, dann werden in der Residenz die Gläser klirren, die Toaste ertönen. Hier schreien die Eulen, schnarchen die Gefangenen, sitzt die Wachmannschaft bei qualmender Ölfunzel bei Kartenspiel und Dünnbier im rauchigen Lokale. Langweilig – entsetzlich lang - -
Millner fuhr aus seinen Gedanken jäh empor und sprang zur Seite. Er stand, ohne daß er es wußte, dicht neben dem Eisenroste der den Schacht in die Unterwelt deckte.
Millner horchte. Was war das? War nicht eben sein Name gerufen worden? M –M – i – ll – ner. Klar und deutlich. Woher kam die Stimme. Jetzt wieder. Spukte es hier wirklich, wie alle Abend in der Wachstube erzählt wurde? Die Haare wuchsen unter dem Helme. Da – kams wieder. Eine hohle Stimme. Nicht rechts, nicht von links, nicht von oben! Ohne Zweifel. Aus der Tiefe der Erde.
Da hob die Uhr aus zum Schlage. Zwölf! Und da kam’s deutlich von unten: „Prost Neujahr! Millner, Sie sind ein Tölpel, ein - - „

Noch ein Lachen, und dann ein Krachen, ein Rutschen, ein Schrei, ein Platsch, wie wenn ein Stein ins Wasser fällt, ein unterdrückter Hilferuf - - -.
Neujahrsläuten vom Turme der Stadtkirche! Schüsse! Glückwünsche! Ablösung!
Mehr tot als lebendig stürzte der Einjährige in die Wachstube. Kreidebleich stand er und erzählte sein Erlebnis, dann sank er in den Sessel des Kommandoführers und stöhnte: „Einen Schnaps, gebt mir einen Schnaps!“

Ungläubig starrte man den armen Millner an. Zum Glück trat eben der Gefangenenwärter, der in jener Zeit zugleich Schloßwirt war, mit einer Ladung Dünnbier und Branntwein in die Erscheinung. Man wollte doch hier auch Neujahr feiern.
Der Alte hatte sofort ahnend die Lage erfaßt. Sein Schlüsselbund rasselte, seine Ölfunzel leuchtete, und mit ein paar beherzten Soldaten gings die lange, lange Treppe vom Schloßhofe hinab in die Tiefe des Kellergeschosses. Ein seltsam Bild bei trübem Lampenscheine. In dem weiten Tümpel da unten schwamm und schnatterte die Edergans, schnatterte vor Frost und konnte das Ufer nicht finden.
Man zog den Duftenden heraus. Er erzählte zähneklappernd, wie er, den Einjährigen zu schrecken, bis zu dem Eisenrost vorgedrungen sei, wie er gerufen, sich dann aber vor Lachen nicht mehr habe halten können. Das Weitere lag vor aller Augen und beschäftigte alle Nasen.
„Bestrafter Vorwitz!“ knurrte der Gefangenenwärter und machte dazu eine bezeichnende Bewegung mit der Hand. Er hätte gern der Strafe noch einigen Nachdruck mit der Haselnußgerte gegeben. Das war sonst sein Amt.
In der Nacht bezog Frieder keine Wache mehr. Seine Kluft mußte ausgelüftet, ausgewaschen und getrocknet werden. Er selbst lag, in Decken gewickelt, auf der Pritsche, frierend.
„Leg noch ein Knickstchen in den Ofen!“ stöhnte er. Ein „Fäßchen“ hatte der Einjährige für die Neujahrsfeier schon vorher bewilligt. Nun aber!
„Dünnbier ***) für einen Halbtoten!“ fragte vorwurfsvoll der Sergeant. Millner verstand. Hätte er nicht verstanden, das Licht wäre ihm gekommen, da ein Soldat dem anderen in die Rippen stieß und laut genug bemerkte: „Punsch wäre besser als Bier, auch für uns!“

Auf einen Wink des Einjährigen eilte der Kantinenwirt geschäftig hinaus. Bald kochte auf dem kleinen Ofen das Wasser im mächtigen Kessel, bald dampfte der Punsch. Es kam Leben in die Bude und auch Frieder taute auf. Der Einjährige war gar nicht so. Nach dem fünften Glase machte sich in ihm eine Stimme bemerkbar, die ihm sagte, daß er eigentlich an dem Unglücke schuld sei. Beim sechten Glase setzte er sich neben den Unglücksraben, beim siebenten fing er an, ihn zu trösten, beim achten sprach er feierlich:“Wenn wir wieder glücklich nach Arolsen kommen, sollst du mein Bursche werden.“ Da drückte der Frieder, hingerissen von Dankbarkeit und Punsch, dem Gütigen die Hand, daß die Finger knackten und sagte gerührt: „Und ich gehe für dich durch dick und dünn, darauf kannst du dich verlassen!“

Dann wischte er sich die Stirn und streckte die große Zehe unter der Decke hervor.
Er war ins Schwitzen gekommen.
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(von Chr. Fleischhauer) [Landauf, landab – Geschichte und Geschichten aus dem Waldecker Land, Verlag Ernst Funk, Bad Wildungen 1924]
Fußnoten: *) Einjährige - Offizier mit 1jähriger Grundausbildung; **) Bien - der Gute; ***) Dünnbier - Bier mit Alkoholanteil von 2% (6% Stammwürze)