Tante Hermine

Große Aufregung bei uns Kindern – Tante Hermine aus Wuppertal kommt zu Besuch. Es war immer etwas Besonderes, wenn Tante Hermine kam. Sie bezog im Vorderhaus (Brunnenstraße 10) die Schlafkammer im Obergeschoss, die vor der Wohnung von Familie Schilling auf der anderen Seite des Flures lag.
Wenn Tante Hermine da war, war alles anders. Bei Oma und Opa saß eine weitere Person am Tisch und die Gespräche
liefen ganz anders, es wurde von früheren Tagen und gemeinsamen Erinnerungen erzählt; und wir Kinder bekamen eine Tafel Schokolade – das war auch etwas Besonderes in den 1960er Jahren und für mich als Fan allen Süßen mit das Wichtigste.
Tante Hermine war eine große Frau, die Haare zu einem Dutt gebunden und sie trug eine Brille mit starken Gläsern. Aus Sicht von uns Kindern war sie u-u-uralt und wie uns unser Vater erzählte war er als Kind zu Besuch bei Tante Hermine in Wuppertal. Dann musste sie uralt sein; und in der Tat, wie wir später mal erfuhren war sie über 90 als sie das letzte Mal zu Besuch kam. Was wir auch erst später erfuhren war, dass Tante Hermine keine „richtige“ Tante von uns war. Sie war irgendwann vor dem Krieg in Bad Wildungen zur Kur und meine Großeltern lernten Sie, wahrscheinlich als Kundin des Gemischtwarenladens, die meine Großeltern in der Brunnenstraße 10 betrieben, kennen. Man freundete sich an und irgendwann verweilte Tante Hermine bei ihren Kuraufenthalten nicht mehr in einer Pension sondern in dem Zimmer im Obergeschoss bei meinen Großeltern. Als mein Vater zwischen 12 und 14 Jahre alt war, fuhr er in den Ferien auch einmal zu Tante Hermine. Von dort brachte er sich als Reiseandenken einen Briefbeschwerer mit dem Motiv der Müngstener Eisenbahnbrücke (früher: Kaiser-Wilhelm-Brücke) mit, den er bis zuletzt in Ehren hielt und der immer auf seinem Schreibtisch lag. Heute verwahre ich das Andenken an Tante Hermine aus Wuppertal.
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Verfasser: Helge Franz