Die Goldkammer im Scheid

In Willingen lebte vor vielen Jahren eine Witwe mit ihrer Tochter. Ihr Mann war beim Holzfällen im Scheid *) verunglückt. Sie besaßen ein kleines Anwesen und konnten wohl zwei Kühe halten, wenn sie des Sommers fleißig krauteten **).
Einst ging Jette, die Tochter, in das Scheid, um ein Bund Grünes zu holen. Als sie auf dem Nachhauseweg an dem Baumstumpf vorbeikam, wo ihr Vater erschlagen (worden) war, warf sie ihr Bund zur Erde und sprach ein Gebet. Plötzlich wich der Stumpf zur Seite, und sie sah in eine Höhle. Neugierig ging sie ein Stück hinein; da merkte sie, daß im Hintergrund alles in hellem Glanze erstrahlte. Gerade wollte sie zurückgehen, als auf einmal ein Zwerg neben ihr stand und sie fragte, ob sie wohl eine Woche bei ihm bleiben und alles einmal gründlich scheuern wolle, er werde es ihr gut bezahlen. Sie dachte, daß sie diese kurze Zeit zu Hause wohl entbehrlich sei, und ihre Mutter einen Dukaten gut gebrauchen könne. Aber den Ausschlag gab die Neugier, und sie sagte zu.
Der Zwerg führte sie nun dem hellen Scheine zu. Bald sah sie sich in einer großen Halle, wo alles von leuchtendem Golde war. Hier waren die zierlichsten und schönsten Gegenstände, die man sich nur denken kann, aus lauterem Gold gefertigt. Dann zeigte ihr der Zwerg seine Werkstatt, wo er all die herrlichen Sachen herstellte. „Für wen machst du denn dies alles?“, fragte das Mädchen. „Das weiß ich selbst noch nicht,“ gab der Zwerg zur Antwort, „ich muss noch manches Jahr daran arbeiten.“ Er setzte hinzu: „Nun fang' mit deiner Arbeit an und reibe alles blank! Wenn du damit fertig bist, gebe ich dir deinen Lohn.“

Fröhlich ging das Mädchen an seine Arbeit. Zu den Mahlzeiten rief es der Zwerg in die Werkstatt. Dort gab er ihr reichliches Essen und jedesmal einen Becher Wein. Wurde sie müde, so setzte sie sich in einen der prachtvollen goldenen Sessel und schlief. Und sie wurde oft tagsüber müde! Die Woche wurde ihr furchtbar lang. Aber sie hatte auch alles schön geputzt. Der Zwerg lobte sie deshalb und sagte: “Weil du so ehrlich gewesen bist, sollst du auch belohnt werden. Denn so viele Gegenstände auch hier sind, ich hätte es gleich gemerkt, wenn etwas fehlte. Hier nimm diesen Laib Brot zur Belohnung.“ „Geizhals,“ dachte das Mädchen, „dafür habe ich mich also so geplagt“, und sagte kaum „Danke“. Der Zwerg sah wohl ihr enttäuschtes Gesicht, lachte aber darüber. Dann führte er das Mädchen zum Ausgang der Höhle.
Hier lag Jettes Bund Gras, und sie war erstaunt, daß es noch ganz frisch war. Sie nahm ihre Last auf den Kopf und ging heim. Als sie sich ihrem Hause näherte, sah sie zu ihrem Schrecken ihre Mutter in Trauerkleidung im Garten stehen. Und, was sie im Walde nicht beachtet hatte, fiel ihr jetzt auf: Im ersten Frühlingsgrün war sie in den Wald gegangen, und jetzt zeigten die Bäume ein rostrotes Leuchten, die Farbe des Herbstes. Jette rief ihre Mutter an. Da fing diese an zu zittern und fiel ohnmächtig zur Erde. Geschwind warf Jette ihr Bund ab und eilte zur Mutter. Als die Witwe wieder zu sich kam, glaubte sie anfänglich zu träumen. Dann erzählte sie der Tochter, daß sie geglaubt habe, sie sei gestorben. Jette erfuhr nun, daß sie nicht sieben Tage, sondern sieben Monate bei dem Zwerg gewesen war. Sie tröstete die Mutter und führte sie in das Haus. Dann kochte sie ihr eine Suppe und legte das Brot auf den Tisch, das ihr der Zwerg mitgegeben hatte. Hierbei machte sie ihrem Unwillen über den Zwerg Luft, der sie so ausgenutzt habe. Doch als sie das Brot zerteilen wollte, merkte sie, daß es mit reinem Gold gefüllt war. Jetzt erst wußte Jette, wie gut es der Zwerg mit ihr gemeint, und es tat ihr leid, dass sie ihm so kurz gedankt hatte.
Vielen Leuten im Dorfe ließ der so rasch erworbene Reichtum keine Ruhe. Ein habgieriger Mann grub den ganzen Baumstumpf aus der Erde; aber den Eingang zu der Höhle des Goldschmiedes hat bis heute niemand wieder gefunden.
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Aus: „Aus der waldeckischen Heimat“, Heft 1, Verfasser Alexander Opper, Frankfurt/Main 1924
*) Gemarkung bei Willingen; **) Futterkraut ernten und einlagern